Dieser eine Tag im Jahr
Kennst du solche Erlebnisse aus deiner Kindheit, die einfach zu dir gehören aber innerlich so abgespalten von dir selbst sind, dass du fast keine Verbindung dazu hast? Ich kenne das sehr gut und erzähle mit Leichtigkeit im Smalltalk darüber, dass ich meinen Vater verloren habe, als ich noch sehr jung war. Es ist eine Realität meines Lebens aber einen echten Bezug dazu habe ich nicht.
Der 14. November. Ein Datum, mit dem ich bis vor ein paar Jahren nichts verband, denn bis dahin wusste ich nicht, dass es der Todestag meines Vaters ist. Aus Trauer und Schmerz hat meine Mutter dieses Datum aus ihrer Erinnerung verbannt. Als er starb war ich erst 3 Jahre alt. Erst seit ca 3-4 Jahren kenne ich das genaue Todesdatum. Seitdem wird dieser Tag immer in meinem Kalender markiert. Das ist wichtig für mich. Sein Grab habe ich erst einmal gesehen, weil ich nicht mehr dort wohne, wo er beerdigt worden ist. Eine echte Erinnerung oder einen Gegenstand, den ich mit ihm verbinde, habe ich auch nicht. Und so ist der 14. November tatsächlich gefühlt das Einzige, was mir noch von meinem Vater geblieben ist. Ein Tag den ich bedacht begehe. Ein Tag an dem ich mir bewusst Raum lasse für Traurigkeit, intensives Nachdenken, schwelgen in der Vergangenheit und betrachten von Fotos.
Bis vor ein paar Jahren hätte ich mir diese Zeit, dieses Ritual nicht geschenkt. Irgendwie kam es mir seltsam vor 37 Jahre nach dem Tod meines Vaters so etwas zu veranstalten. ABER ich habe gelernt, dass ich nie bewusst um den Verlust dieser, für mich so enorm wichtigen Vertrauensperson, trauern konnte. Ich war schlicht zu jung. Und ich war zu klein, um mich daran erinnern zu können, wie meine Mutter mit mir durch diese schreckliche Situation gegangen ist. In meiner Wahrnehmung habe ich also noch nie bewusst meinen Vater betrauert. Und das gestehe ich mir seit einigen Jahren zu. Und es fühlt sich gut an. Es tut gut. Es schafft eine emotionale Verbindung zu meinem Vater, den ich ja nur von Erzählungen wirklich kenne. Ich möchte sein Leben würdigen und meine Traurigkeit über seinen Verlust verarbeiten und ausdrücken.
Und seitdem ich das tue, wurde diese entfernte Realität zu meiner Realität. Dieses schreckliche Erlebnis wurde greifbarer aber auch befreit von Schmerz. Total paradox oder? Aber ich denke, dass ist es was Trauer und die Auseinandersetzung schafft.
Und so gehe ich heute in diesen 14. November und spüre nicht mehr Ohnmacht wenn ich daran denke. Ich spüre stattdessen eine tiefe Dankbarkeit für meinen Vater. Dafür, dass wir wohl eine echt enge, liebevolle Beziehung hatten. Ich bin sicher, dass er stolz ist auf mein Leben, und dass ich ihn irgendwann wiedersehen werde. Bis dahin begehe ich jeden 14. November ganz bewusst und denke an ihn.
xx
Judith
Dankbarkeit war in meinem Herzen wie ein Schlüssel für eine Tür zu einem Raum, der mich in die Weite geführt hat.
Judith Beständig